Träume
bei Wilhelm Jensen I
Vorbemerkung:
Seitdem Sigmund Freud 1907 Jensens späte Novelle „Gradiva“
(1903) als literarischen Beleg für seine psychoanalytische Theorie obsessiver
Träume untersuchte und damit auch Jensens Nachruhm als Autor sicherte, hat
niemand versucht, sich angesichts von dessen fast 150 Veröffentlichungen einen
Überblick über die Typologie und Funktion von Träumen in jenem breiten Panorama
der Werke zwischen 1872 und 1911 zu verschaffen, die man der literarischen
Strömung des poetischen Realismus zuordnet und die, wiewohl thematisch
historisierend durchaus viele Aspekte zeitgenössischer Probleme berührten und
kritisch darstellten wie z.B. die gesellschaftlichen Hemmnisse bei der
psychologischen Entwicklung Heranwachsender. Wilhelm Jensens Träume aus
dichterischer Intuition, nicht aus psychoanalytischer Intention stehen im
Zusammenhang mit den Personen und deren Handlungen in seinen Romanen. Bisweilen
liefert er auch Deutungen eines „Unbewußten“ im vorfreundianischen, auch schon kollektivem
Sinne als begrenzte „couleur locale“ dazu.
Die Traumpassagen sind in den Novellen und Romanen nur kurz
und durchbrechen die epische Realität als zu dechiffrierende Parallelen. Visionäre
Begegnungen mit geliebten, jedoch unerreichbaren Frauen leiten sich zuweilen
von Statuen oder Bildnissen ab – ganz im Sinne Eichendorfs, dessen Novelle „Das
Marmorbild“ vielleicht Jensen dazu literarisch inspiriert haben könnte. Aber es gibt auch ganze Erzählungen wie „Ein
Traum“ oder „Jugendträume“ (beide 1882) In Jensens Konzept des poetischen
Realismus verbindet und erweitert die Phantasie die oft reduzierten
historischen Fakten. Seine grundsätzliche Perspektive ist eine duale mit einer
Vorliebe für Doppelungen und Inversionen von Konflikten und sogar Personen mit
Titeln wie z.B. „Versunkene Welten“ (1881), mythologisch motivierten „Metamorphosen“
(1881) oder „Doppelleben“ (1890).
Die folgende erste Anthologie versucht, Träume bei Wilhelm
Jensen zu präsentieren, wobei die kontextuelle Verflechtung knapp angedeutet bleibt.
Das
Tagebuch aus Grönland, B. I, S. 41/42 (1885)
Es hat etwas
höchlich Eigenartiges, Freund Ruben, hier am Rande der belebten Welt zwischen
ewigem Schnee und Eis zu sitzen und die Zustände jenes Landes, in dem ich
einige Zeit gelebt, kaum mehr von tellurischem, sondern fast von einem
siderischen Standpunkt zu betrachten.
Sie gehen mein
eigenes Dasein gar nichts an, liegen wie eine vergilbte geschichtliche
Überlieferung vor meinem Blick. Am meisten gleichen sie bunten ineinander
verschobenen Traumgebilden. Man hat während des Träumens wohl zuweilen mehr
oder minder deutlich ihre wiedersinnige Thorheit empfunden; doch erst beim
Erwachen erkennt man klar, unter welchem barock-garstigen Mummenschanz
alberner, toller und menschenunwürdiger Gedankenvorspiegelungen man verweilt
hat. In der hiesigen/stahlhellen Luft befindet sich keinerlei Dunst, um Augen,
welche ein Verlangen nach richtigem Sehen in sich tragen, mit falscher
Lichtbrechung zu täuschen.
Runensteine
S. 1-6/320 (1888)
[Traum
als Einleitung zum Romangeschehen: Knabe am Meeresstrand, Entrealisierung,
Entgrenzung von Raum und Zeit, visionäre Begegnung mit drei „schauenden“Frauen
auf den Runenfelsen als allegorische Nornen ]
Ich ging im Traum
am weißen Meeresstrand, wo ich als Knabe oft nach Muscheln und buntem Steinglanz
gesucht. Zu meiner Rechten fiel der alte Dünenhang, von Fluten der Jahrtausende
abgeschwemmt und unterhöhlt, steil herab; graue Stämme hoben grüne Wipfel hoch
von ihm auf, doch da und dort krümmte sich ein bloßgelegter Teil ihrer Wurzeln,
des Erdreichs beraubt, schon ins Leere. Auch Saat mit leis wogenden Halmentrat
bis zum Absturz heran und bog sich über ihn nieder; hin und wieder lagen
einzelne halbgereifte Ähren, vom Rande gefallen, drunten im Sand und Kies. Mir
zur Linken kamen die Wellen in immer gleicher Gestaltung, mit immer gleicher
Farbe und gleichem Ton. Sie rannen ans seichte Ufer, waren ausgelöscht und
waren doch wieder da. Ihr Gemurmel vermischte sich mit dem Summen des Windes,
wie das Spiegelblau des wolkenlosen Himmels auf dem Rücken der See mit dem
Strahlenrückglanz der Sonne ineinanderfloß. Weit hinter mir verschwanden die
letzten Strohdächer eines Fischerdorfs, klein und unkenntlich, doch noch ferner
vor mir bildete am ausgeschweiften Hafenrande einer Bucht ein jäher Abfall
gegen den Horizont scheinbar das Ende des Landes. Er sah bläulich überduftet
aus, wie kaum erreichbar. Doch ich wollte bis zu ihm hin, denn ich hatte ihn
immer nur gleich einem Geheimnis in der / Weite gesehen, und ein nicht mehr
überwindbarer Drang in mir trieb mich, den nebelnden Schleier von ihm zu
lüften.
Ich war wohl ein
Knabe, aber mein Fuß zog schwer durch den mahlenden Sand, und Müdigkeit lag auf
mir, als trügen Leib und Seele die Last eines langen Lebens. Nichts, meinem
eigenen Wesen ähnlich, regte sich um mich her, nur ein großer, hellgefiederter
Vogel zog langsamen Flügelschlags am Ufer auf und ab. Er überholte mich,
wendete sich und kam mir entgegen und begann den gleichen Gleitflug neben mir
aufs neue. Dann und wann ging sein Ruf über die Einsamkeit von Strand und See;
ich fühlte, daß er eine Sprache rede, doch ich verstand sie nicht. Was mir
schien, war, er suche mich zu warnen, den Weg oder die Weglosigkeit vor mir
weiter fortzusetzen. Und immer auch blieb mein Ziel in der nämlichen Weite,
obwohl rückwärts längst Alles verschwunden, was meinen Ausgangspunkt gedeutet.
Kein Merkmal eines Unterschiedes war um mich, mein Tritt hinterließ keine Spur
im Sande, und seltsam verharrte die Sonne unverrückt an derselben Stelle im
tiefen Ätherblau. Ich mußte viele Stunden zurückgelegt haben, aber allmählich
zerrann in mir selbst gleichfalls das Maß dafür, es konnten auch Tage, auch
Jahre gewesen sein. Und plötzlich fiel es mit einem Schauer der Erkenntnis auf
mich, ich war in ein Gebiet gelangt, in welchem Zeitlosigkeit waltete.
Da hatte ich auf
einmal den fernen Absturz erreicht, nach dem ich getrachtet. Er sprang weit in
die See hinaus, fahl und kahl, nur hier und da von blaß-grünem Schilfgras
überflimmert, todeseinsam, ein Ende der Welt, denn Nebelluft breitete grauen
Vorhang hinter ihm. Zu seinen Füßen ragten drei mächtige Bauta- oder
Runensteine, halb in den Grund eingebettet, schwarzfarbig aus dem Wasser
herauf. Sie erschienen gleich Riesenblöcken eines Hünengrabes von gigantischer
Größe;/ murmelnd kamen die Wellen und raunten leis verworrenen Klang an ihnen
empor.
Mir aber blieb nicht
Zeit, an das tote Gestein zu denken. Es saßen drei Gestalten auf dem alten Geblöck,
ganz nackt, ihre Füße tauchten in die kristallen-durchsichtige Flut, der
Sonnenglanz umfloß blendend mit goldenem Strahlenschleier ihren weißen Leib,
und Wind spielte durch die Haare des Scheitels. Waren es Nymphen, aus der
Meerestiefe heraufgestiegen? Sie gingen über Weibesgröße hinaus, ich hatte
niemals ähnliches, dem Leben Angehörendes gesehen; jede von ihnen war, wie
Menschenvorstellung durch Künstlerhand aus Marmor die Hoheit von Göttinnen
gebildet. Nur das Antlitz und sein Ausdruck unterschied sie.
Die Erste trug
dunkles, fast nächtig schwarzes Haar zu ernster Tracht um das Haupt gefesselt.
Ihre Züge waren unbeweglich ruhevoll, wie die sterngleichen Augen, die sich
über die unabsehbare Weite des Meeres fortrichteten. Sie gewahrten nichts um sich
her; ihr Blick ward von einer Leuchtkraft aus dem eigenen Innern erhellt, doch
auch ein fremdes Licht, das, mir nicht sichtbar, von unendlicher Ferne kommen
mußte, spiegelte sich zwischen ihren weit offenen Lidern. Ein schwärmerischer
Glanz ging aus ihnen hervor, aber ohne Wärme, wie Sterngefunkel einer
Winternacht streng und kalt.
Den Scheitel der
zweiten deckte blondes Haar, allein so ins Graue streifend, daß es fast von
Aschenfarbe schien. Es gab sich ohne Ordnung dem Zufall preis, ließ sich flatternd
von der Willkür des Windes bewegen und
warf über das jugendliche Gesicht Schatten, wie Faltenstriche des Alters. Ihre
Augen nahmen auf, was um sie lag, doch sie waren glanzlos stumpf, leer und
gleichgültig. Auf den Lippen lauerte eine Regung des Gemütes, aber wenn sie zum
Laut wurde, konnte er sie nur in ein Wort bitteren Hohnes umsetzen.
Die Steine lagen zu
einem Dreieck gestaltet, und / zugleich zwischen jenen beiden und beiden
gleichmäßig entrückt, saß die Dritte. Ihr fiel reiches, goldlichtes Gelock bis
über den Nacken und die Schultern herab, als ob die Sonnenstrahlen sich um sie
gelegt. Und so glichen auch ihre Augen dem Blau des Himmels, mildleuchtend und
weich. Sie erschien am meisten wie ein irdisches Weib, die schöne Doppelbrust
hob sich von lebensvollem Atemzug, und es war, als sehe man unter ihr ein
weiches Klopfen des Herzens. In dem Antlitz mischten sich zu wundersamer
Vereinigung Glück und Trauer, Freudigkeit und Wehmut; man wußte nicht, ob die
rotblühenden Lippen sich zum Lachen oder zum Weinen regen wollten. Ein warmer,
lieblicher Anhauch ging von ihnen, von aller körperlichen und geistigen
Wesenheit der holden Gestalt aus, und doch redete verschwiegene Hoheit auch in
ihren Zügen. Nur gedachte sie derselben nicht gleich den beiden Anderen,
sondern trug sie unbewußt in sich als Mitgift ihrer Natur.
So saßen die Drei
auf den Runensteinen der Vorzeit zwischen See und Sand, in Wind und Sonne. Sie
schwiegen, und Himmel und Erde waren ohne Lat. Von anschauendem Staunen
bewältigt, stand ich lange, bevor ich zu fragen vermochte: „Wer seid Ihr?“ Doch
sie gaben keine Antwort, regten sich nicht, verwandten ihren Blick nicht aus
der Richtung, in die er sich geheftet hielt.
Da scholl ein
leises Rauschen an mein Ohr, und wie ich emporsah, stand flügelschlagend über
mir in der Luft der große, weißbrüstige Vogel, der lange meiner mühsamen
Wanderung das Geleit gegeben. Er stieß ein paar Rufe auf mich herab,
scharftönig, doch verklangen sie sonderbar matt in der toten Öde umher. Aber
ich verstand jetzt plötzlich ihre Sprache, sie sagten:
„Du hörtest nicht
auf meine Warnung, denn es ist für deine Art besser, nicht hierher zu kommen.
Nun bist du bei den drei Schauenden, die von Anbeginn auf die / Wiege eures
Geschlechtes blicken. Unbeweglich sind sie selbst, zeitlos und ewig, doch in
eurem vergänglichen Blut kämpfen sie die Gegnerschaft aus, die sie
unversöhnlich voneinander scheidet. Wiederhole deine Frage nach ihrem Tun
dreimal, und sie werden dir Rede stehn.“
Ich tat nach dem
Geheiß und fragte die Erste: „Was tust du?“ Als ich es zum drittenmal
gesprochen, wandte sie langsam den Kopf, kurz strahlten ihre kaltglänzenden
Augen mir ins Gesicht, und sie erwiderte mit metallener Stimme gleich dem
Anschlag einer Erzglocke:
„Ich schaue die
Ewigkeit des Lebens.“
„Und du?“
Gegen die Zweite
gekehrt, frug ich’s, und auch sie drehte mir kurz die ausdruckslose Leere ihres
Blickes zu. Ihre Stimme gemahnte gleichfalls an den Ton einer Glocke, doch an
eine von innerem Durchsprung zerspaltene; damit gab sie Antwort:
„Ich schaue die
Nichtigkeit des Lebens.“
Nun sah ich fragend
auf die Dritte. „Was bleibt dir noch anderes zu tun übrig?“
Da wendeten sich
ihre Augen mir entgegen, warm wie die Sonne des Frühlings und blau gleich
seinen Veilchen. Mein Herz erzitterte seltsam unter dem Blick süß und bang,
denn es ward aus ihm von allem durchflossen, was es je in sich empfunden. Und
eine weiche Menschenstimme sprach – und wieder klang es mir bis ins Herz,
wundersam von seliger Wonne und tiefem Weh zugleich durchbebt:
„Ich schaue die
Flüchtigkeit des Lebens.“
Mir aber flog von
den Lippen, aus tief aufatmender Brust: „O du Liebreiche, Hohe, du
Göttlich-Menschliche, laß mich dir noch ins schöne, beglückende, trauernde Auge
sehn!“
Doch in meinen
sehnsüchtigen Ruf hinein stieß der Vogel schrill einen Schrei herab, und im Nu
wie eine Wand kam der graue Nebelvorhang daher und legte sich / zwischen mich
und das alte Meergestein. Die Sonne war plötzlich weitergeschritten, als sei
sie unter den Horizont niedergefallen, letztes Dämmerlicht übergraute den Himmel.
Unsichtbar rollten die lauter rauschenden Wellen mir vor den Fuß, der Wind
murrte drüber, und einsam stand ich am öden, nächtigen Strande.
[Zu Anfang einer historischen Erzählung des Widerstandes
gegen die napoleonische Besetzung einer ostfriesischen Insel folgt der Erzähler
den Spuren seiner Vision und trifft auf einen Eingeweihten, der ihm ein
Manuskript überläßt mit einer narrativen Illustration jener drei Schauenden von
Ewigkeit, Nichtigkeit und Flüchtigkeit]
S. 24 f.: „ Den
Anlaß [für die Kontaktaufnahme] dazu bildete im Grund etwas Wunderliches,
nämlich ein Traum.“
Er nickte mit dem
Kopf: „Ja, ein Traum kann wunderlich einen Antrieb verursachen. Das heißt, so
willkürlich er erscheinen mag, sind wir selbst doch immer seine Urheber und
bedienen uns manchmal seiner, um uns in seltsamer Form über etwas, das
verworren in uns liegt, klar zu werden. Ich höre gern von Träumen besonderer
Art, denn zwischen ihren sinnwidrigen, unmöglichen Sprüngen kommt nicht selten
das unbewußte Denken und Empfinden des Menschen zum Ausdruck. Ein solcher Traum
scheint der Ihrige zu sein.“…/ „Seltsam, sie haben sie auch gesehen? Das waren
sie.“
[Der Traum von den „Schauenden“, die historisch politische
und persönliche Realität überlagern sich angesichts der Bedrohung durch
französische Rekrutierer in der unerfüllten Liebesgeschichte von Uwe und Teda während
ihrer Flucht in die Dünen:],
S. 253 f.:
So überkam beide
allmählich der Schlaf, und auch der Traum gesellte sich hinzu. Den Umständen
nach mischte dieser, wenigstens in den Vorstellungen, mit denen er Uwe umfing,
bunt-sonderbare Dinge durcheinander. Er saß auf einem der drei Steine am Rande
der Möweninsel, war Ferdinand von Schill und sollte französischer Soldat
werden, um gegen Deutschland zu kämpfen. Aber aus dem Wassergemurmel unter
seinen Füßen sagte eine Stimme, ihm könne noch Hülfe dagegen kommen, wenn er
nach einem Hause gehe, was drüben irgendwo liege. Das tat er, wanderte lange
über den Wattengrund, immer zwei begleitende Gestalten neben sich, die er indes
nicht sah, nur bei jedem Schritt gewahrte er die kinderhaft kleinen Fußspuren,
die sie in dem feuchten Sande hinterließen. Dann jedoch war er in dem Hause
angekommen, saß mit vielen schweigsam-wortkargen Männern zusammen und beriet.
Sie kamen zu keinem Ergebnis, bis die nämlich Meeresstimme wieder, doch diesmal
von dem Munde einer Frau sprach, so helfe es nicht, er müsse mit Jemand
fortgehen und sich in die Düne legen, um die richtige Maßregel auszufinden.
Auch das geschah, und er ging mit seiner Begleiterin davon, aber diese war
wieder unsichtbar, er fühlte nur ihre Hand in der seinigen. Nun streckten sie
sich im Dunkel nebeneinander in den weichen Sand, über ihnen summte der Wind
und jagte ab und zu ein kreischender Vogel. Sie ratschlagten zusammen, die
neben ihm Ruhende hatte den Arm unter seinen Nacken gelegt und sagte, Schill
dürfe sich nicht zu einemfranzösischen Werkzeuge gegen sein Vaterland machen
lassen; wenn das geschehe, werde sie niemals seine Frau. Er antwortete:
„Niemals, um keinen Preis!“ Es kam ihm aus der innersten Überzeugung, doch noch
mehr klopfte ihm das Herz, denn sonst verliere er das höchste Gut des Lebens
und sie werde nicht seine Frau. „Willst du’s denn sonst?“ fragte er mit / einem
wundersam ruhevoll-seligen Pochen in der Brust und ihre Stimme erwiderte: „Ja.“
Da schlugen Uwes
Lider sich auf, und er wußte nicht, ob er geträumt habe oder noch im Traum
liege. Alles um ihn war, wie es in diesem gewesen. Er fühlte sich in der Düne
hingesteckt, über ihm murrte der Wind, jagten die Möwen, unter seinem Nacken
lag ein halb abgesunkener Arm. Nur herrschte kein völlige Dunkel mehr, ein
kaltbleicher erster Frühschein kam vom Osthimmel.
War er Ferdinand
von Schill oder nicht? Aber er wußte, wer neben ihm lag, den Arm um ihn hielt;
er hatte auf einmal bei dem letzten „Ja“ die Stimme erkannt, und noch mit dem
seligen Glücksgefühl im Herzen hon er etwas den Kopf, um auch das Antlitz, von
dem sie gekommen, zu betrachten.
Seine Augen
zuckten, stutzten plötzlich ungläubig; sie wiesen ihm im halbgrauen Schimmer
das Gesicht der festschlafenden Teda, und es war doch nicht ihre, eine andere
Stimme gewesen, die er gehört hatte. Sie klang ihm noch im Ohr, im Herzen nach.
Nun fiel der Traum
von ihm, er erkannte, daß ein solcher ihn getäuscht. Die Erinnerung kam ihm
zurück, weshalb und wie er mit Teda hierhergegangen sei; …
[Die
Rahmenerzählung schließt mit der fast eine Generation späteren Suche des
Erzählers nach den Runensteinen]
S. 320: … modisch
angezogene Badegäste kamen mir auf der Düne entgegen. Ich nahm ein Boot und
suchte, gegen die Flut hinausrudernd, die kleine Möweninsel zu finden. Da
stoben die Vögel wie einst, einem Schneegestöber ähnlich, vor mir auf, und am
Nordrand ragten die drei schwarzen Steine halb aus dem Wasser. Todeseinsam, wie
in meinem Traum, war es um sie her, nur ruhte niemand auf ihnen. Doch vor meinem
Blick stand die alte Runenschrift des Lebens in sie eingeschrieben, an deren
Verständnis die Menschheit sich seit Anbeginn müht, und deren Rätsel nur Eines,
beglückend und tröstend, wenn nicht zu lösen, doch zu lindern vermag: Der
irdische Herzschlag der Menschenliebe.
Unter
heißerer Sonne (1868/ durchgesehen 1902, hier Ullstein 1911)
]Traum
als hyperbolische Metapher für exotischer Eindrücke; Mittagstraum; Doppelungen
und Visionen; europäische mythische Kompensation als Odysseus; Überlagerungen
und Idealisierungen]
[Der Bremer Naturforscher Dr. Friedrich Woldmann fährt mit
dem Dampfschiff „Asuncion“ den Orinoco hinauf und sieht zum ersten Mal den
tropischen Urwald von „sinnbestrickender Schönheit“ (S. 6) und Fülle, als er am
Ufer einen Jaguar erblickt]
S. 9: Der „Herr
Naturforscher“ strich sich mit der Hand über die träumerisch auf das gefleckte
Raubtier gehefteten Augen und sagte, mit dem Kopfe nickend, leise in deutscher
Sprache vor sich hin: „So stand’s vor mir in meiner Kindheit und lockte und
winkte mit geheimnisvoller Hand und ließ mir nicht Ruhe, bis der Mann die
Sehnsucht des Knaben zu befriedigen vermochte. Das sind die Gestalten der
heißen Zone, zauberisch glühend und grausam erbarmungslos. Das ist die
Leidenschaft der Natur, die der Norden nicht kennt und nicht begreift, und die
doch die Wahrheit und den Kern des Lebens enthält.“…
S. 12: Dann sah man
einen Augenblick tief in das Herz der ungeheuren blühenden Einöde hinab, wo die
Bäume ebenso schweigsam, ebenso bunt belebt standen, und es ging weiter, weiter
wie im Traum der Kindheit.
… Da wieder, wie im Traum, blitzten weiße Punkte zwischen
dem Gewirr am Ufer auf. Sie vergrößerten sich allmählich zu Häusern…
[Woldmann ist Gast im Haus von Don Amedeo Miguel di
Velasquez, den er vor zwanzig Jahren als Knaben in Deutschland kennen gelernt
hatte, und dessen schöner jungen Frau Donna Juana („aus Alabaster gemeißelt“,
S. 43), die im Zentrum einer Abendgesellschaft („tertulia“) steht. Er wird
ungewollt Zeuge intimer Vorgänge im Hause, einer Liebesbeziehung des Personals,
der Langeweile der Hausherrin ohne Bücher, der Erzählung von Freitod einer verschmähten
Spanierin. Donna Juana scheint deswegen tief
beleidigt, was Schuldgefühle bei Woldmann auslöst. Seine spanische
Übersetzung de Odyssee läßt sie unberührt, wiewohl „flammend“ errötend (S. 66).
Bei einem Spaziergang kommt er bei der Bergung einer Frauenleiche hinzu und erfährt
die Hintergrundgeschichte: Diese verheiratete junge Tote namens Juanita habe
sich kurzfristig in einen anderen verliebt, ward zurückgewiesen und es kam zum verzweifelten
Entschluß, aus dem Leben zu scheiden. „Unsere Muchachas, die armen Dinger,
haben heißes Blut in den Adern, und ein Blick, ein Wort reicht hin, sie in
Brand zu setzen“ (S.76), läßt er sich belehren. . „..die sonderbarsten,
wildesten Gegensätze des Lebens und des Todes durchwogten seine Phantasie und
drängten sich in der glühenden, farbigzitternden Tropensonne aneinander.“
(S.77). Während eines Mittagspaziergangs unter Feigenbäumen drängt sich ihm immer
wieder das Bild der schönen Toten auf.]
S. 79 f.: Er sah es gespenstisch vor sich im schimmernden
Sonnenschein; auf den grünen glänzenden Fikusblättern zeichnete es sich mit den
lang nachfließenden Haaren weiß, unheimlich und zauberisch zugleich, ab. Hastig
trat er auf kaum fußbreitem Wege zwischen den hohen, wandartigen dichten Bäumen
durch, um dem verfolgenden Bilde zu entrinnen. –
Da stand es wieder
vor ihm, aufrecht, wie aus Marmor gemeißelt, vom langen, glänzend schwarzen
Haar umflossen, die funkelnden Augensterne starr auf ihn gewandt –
Nur eine Sekunde,
dann stieß das Marmorbild / einen Schrei aus und warf sich in dem gemauerten Bassin,
dessen Boden von dem Wasser der hindurchgeleiteten Quelle bedeckt war, nieder.
[Er hat Donna Juana auf dem Weg zum Bad überrascht und
seiner Ansicht nach zum zweiten Mal tödlich beleidigt. Verstört flüchtet er aus
dem Haus in den abendlichen Urwald.]
S. 81 f.: Aber ihm
war alles gleichgültig geworden, das Leben und die Zukunft; er suchte Ruhe,
Schlaf, Vergessen. Der Schlaf kam über ihn, doch die Ruhe und das Vergessen
nicht. Halbverklungene Erzählungen von dem unversöhnlichen Haß und der Rache
beleidigter Kreolinnen verfolgten ihn im Traum; dazwischen stand immer wieder
die weiße götterschöne Gestalt in dem dunklen, kühlen Raume über der murmelnden
Quelle und sah ihn mit glutfunkelnden Augen an, starr und brennend wie die
Pantherin aus dem Dickicht, als er über den Bord der „Asuncion“ gelehnt. Dann
stieß sie einen Schrei aus und verschwand.
Nein, sie
verschwand nicht, sondern sie lag am Flußufer ausgestreckt, kalt und leblos,
mit nachschleifendem, triefendem Haupthaar. Eine gelle Stimme rief: „Wehe über
den Mörder! Um seinetwillen / hat sie sich getötet, er hat sie beschimpft,
meine süße Juanita!“ Und plötzlich funkelte es aus der Menge von blitzenden
Dolchen um ihn her.
[Er erwacht etwas ruhiger, mißt sich keine Schuld zu, weil
fremd und der Landessitten unkundig. Er kehrt zur abendlichen Tertulia zurück,
wo man sich nicht um ihn kümmert. Donna Juana habe sich den ganzen Tag auf ihr
Zimmer zurückgezogen, wo er sie unbemerkt mit lautem Herzklopfen beobachtet.]
S. 89 f.: - was war
diese anmutige, spitzenumflatterte, rauschende Gestalt [der kreolischen
Dienerin] gegen das hohe, traumhafte Venusbild mit den weißen, schaumgeborenen
Göttergliedern, von dem ihm immer mehr war, als winke es schon aus unendlich
ferner Zeit, wie aus einem Traum der Kindheit herauf. Verschleiert, wolkenhaft,
wie in Nebel eingehüllt kam es heran, langsam durch die Jahre daher, über Meer
und Lande, und ein Gewebe um das andere fiel herab, daß es hervorzuschimmern
begann, undeutlich erst, doch allmählich heller und wundersamer. Und je klarer
das Bild wurde, um so mehr verdichteten sich hinter ihm die Schatten, daß es in
zauberischer / Schöne gegen den dunklen Hintergrund hervortrat. Dann plötzlich,
wie Wolkengetümmel vor dem geisterhaften Strahl des Vollmonds, zerriß der
letzte Schleier, und auf einsamem Piedestal stand das Götterbild aufgerichtet,
das ewige, alturalte, vor dem seit dem Beginn des Lebens alle Völker des
Erdballs die Knie gebeugt – und es durchschauerte den einsamen Träumer, der ,
mit geschlossenen Lidern an den Türpfeiler gelehnt, Zeit und Raum um sich
vergessen, daß er von seinen eigenen Phantasien entsetzt aufschrak und
besinnungslos wieder in die dunklen Augen Donna Catalinas hineinstarrte, die
mit einer leichten, deutungsvollen Neigung des Kopfes lächelnd an ihm
vorüberschritt und die Tertulia verließ.
[Diese, als
kreolische Dienerin verhüllt, versucht ihn in der dunklen Krypta der
Kirche, zieht ihn an sich, küßt ihn mehrmals, als der Schleier herabsinkt und
er sie erkennt, sich befreit und ihr erklärt, er liebe sie nicht, wobei er
indirekt seine Liebe zu Donna Juana gesteht. Als sie flieht, ruft er ihr
haltlos nach, daß er sie doch liebe, denn eine „tödliche Sehnsucht durchströmte
ihn“, er „lag zum ersten Male in den Banden einer Leidenschaft, die er bis
jetzt nicht gekannt“, S.99.]
S. 99 f.: Der Mond
überglänzte jetzt aus dem azurblauen Himmelsgewölbe mit silberweißem, fas
taghellem Schein die tiefe Ruhe der Tropenwelt. Der junge Gelehrte stand am
Flusse und schaute träumerisch hinauf und hinab auf die wallenden,
lichtzitternden, überstürzenden Strudel des Gewässers. So wallten, zitterten
und überstürzten sich seine Gedanken und Phantasien. Doch allmählich verschwammen
in dem beruhigenden / Glanze der Nacht die beiden Traumbilder seines Herzens zu
einer einzigen wundersamen, alles umfassenden Gestalt, unnahbar majestätisch
wie Phöbe, die kühlblickende Göttin der Nacht, und doch wieder glühend,
versengend in heißer Leidenschaft wie die Sonne des Mittags.
Nur ein Traumbild
der Sehnsucht war’s – wo war sie, die beides vereinigte?..
[Es folgt eine Begegnung mit Donna Juana im Hause, die ihm
nicht zürnt, daß er ein Liebesverhältnis mit Donna Catalina angeknüpft habe. „ Woldmann
fühlte, daß ihm vor Scham, vor Ärger und wahnsinniger Leidenschaft die Tränen
in die Augen traten“. S. 103.]
S. 110 ff.: Doktor
Friedrich Woldmann hatte einen seltsamen Traum. Über die versunkene Atlantis
keuchte die „Asuncion“ daher. Da plötzlich versank auch sie, und er trieb
allein auf weitem. Freundlosem Meere. Tage und Nächte lang; er wußte, es war /
der Zorn der mächtigen Gottheit, der ihn verfolgte, denn er war ja Odysseus,
der vielgewanderte, der
„vieler Menschen
Städte gesehn und Sitte gelernet“.
Doch nicht Poseidons Groll hatte ihn ins Verderben gestürzt,
sondern eine hohe, dunkelblickende Meeresgöttin war es, die mit zürnenden
Worten um ihn die Wogen peitschte. Über ihren Nacken floß das aufgelöste
schwarze Haar zurück, und sie sagte kalt mit gleichgültigen Lippen: Du wolltest
mich verachten, Tor; lerne meine Macht kennen.“
„Juana - Juana -„
stöhnte der Träumende.
Da hob sie sich in göttlicher Schönheit aus den grünen
Wellen und rief: „Ich bin nicht Juana – Aphrodite bin ich, die du verspottest.
Ich beherrsche die Wellen des Meeres und die Wogen des Blutes, und ich habe sie
gesandt, dich an das Ufer zu tragen, wo meine Rache deiner harrt.“
Aus den Lüften
senkte sich eine Wolke herab und entrückte sie. Tage und Nächte lang trieb er
kraftlos umher; dann warf ihn das Meer an fremdem / Gestade aus. Mühsam
schleppte er sich in das Dickicht des Urwaldes und entschlief. Nun erwachte er
von hellstimmigem Gelächter; verwundert betrachteten ihn die Bewohnerinnen des
unbekannten Landes, eine weiche, kleine Hand zog ihn fort. Merkwürdigerweise
durch einen langen, schmalen, finsteren Gang, an Gräbern vorüber – dann saß er
am Herde des Alkinoos und wunderte sich über die Sitten und Bräuche und
Lebensart der Phäaken. Alles um ihn her drehte sich um Scherz, Spiel und Tanz
und „trefflichen Schmaus“ und kam ihm unwürdig und erbärmlich vor, wenn er des
tätigen Lebens, das hinter ihm lag, der mancherlei Gefahren, die er bestanden,
gedachte. Welchen Zweck diese Tätigkeit seines Lebens gehabt, stand ihm
freilich nicht deutlich vor der Erinnerung; verschwommen nur entsann er sich,
daß er lange Jahre hindurch Kollegien besucht und Nächte in einsamer Arbeit
durchwacht, um eine Maschinerie für die Eroberung Troja zu erfinden. Nun saß er
im Lande der Phäaken, und jedesmal, wenn er sich nur an einem Wettstreit, einem
edleren Waffenspiel beteiligen wollte, einen Diskus vom / Boden nahm oder einen
Speer ergriff, sagte der König Alkinoos, genau mit dem Gesicht und der Stimme
Don Amedeos Miguel di Velasquez, zu ihm:
„Nehmt vor der Hitze in acht Euch, erfahrungsreicher
Odysseus!“
Das verdroß ihn
allmählich aus verschiedenen Ursachen entsetzlich. Erstens, weil er sich trotz
„unermeßlicher Speise und Trank“ zu langweilen anfing, und dann, weil die
Phäaken ihn hartnäckig spanisch und „Vos“ anredeten, obwohl er ihnen mehrfach
das Unklassische und Anachronistische dieses Benehmens auseinandersetzte. Nur
Nausikaa, die ihn zuerst in den Palast gebracht, nannte ihn „Du“. Sie war sehr
schön und trug immer eine rote Granatblüte an der Brust. Auch freundlich war
sie gegen ihn, und ihre Augen bildeten den einzigen Grund, daß er seine Abreise
immer noch von Tag zu Tag verzögerte und nicht das für ihn ausgerüstete, mit
einem gewaltigen Dampfschlot versehene „Meerschiff“ bestieg. Doch dann traf er
sie eines Mittags allein in der kühlen Halle. Die schöngegürtete Nausikaa saß /
in einem Schaukelstuhl und fächerte sich mit einem breitgerippten Palmblatte
frische Luft ins Antlitz, und er setzte sich ihr gegenüber und erzählte ihr
vertraulich von seiner Heimat und der lilienarmigen Catalina, die auf Ithaka
seiner harre. Er sprach so lange, daß er nicht wahrnahm, wie es immer dunkler
um ihn wurde, die Sonne am Horizont versank und der Vollmond aufstieg. Und
plötzlich stand Nausikaa, von weißem Licht überstrahlt, an einen Baumstamm
gelehnt, vor ihm und sagte gleichgültig:
„Ich wüßte nicht,
er Euch hält, Don Odysseo, wenn Ihr Eurer Heimat gedenkt und fortreisen wollt. Warum
macht Ihr mich zur Vertrauten Eures Jammers? Geht zu Eurer lilienarmigen
Penelopeia oder Catalinea, die Euch erwartet. Gute Nacht, Don Odysseo - -„
Woldmann wachte mit
einem unwillkürlichen lauten Gelächter auf. „Die lilienarmige Catalinea,“ wiederholte
er mehrmals fröhlich. [„lilienarmig“ ist bei Homer das Attribut Heras] Er
sprang aus der Hängematte und trat ans Fenster. Es war ein Tropenmorgen, wie er
vor vierundzwanzig Stunden / (S.115) gewesen, wie er nach vierundzwanzig
Stunden abermals sein und, mit Ausnahme der Regenzeit, um diese Stunde bis ans
Ende aller Dinge genauso wiederkehren würde. Aber es kostete den Erwachten
trotzdem einige Zeit und Mühe, bis er sich überzeugt, daß er sich nicht bei der
„Phäaken erhabenen Fürsten und Pflegern“ befinde und daß er selbst nicht der
„Städteverwüster“ Odysseus sei. Unwillkürlich blickten seine erwachenden Augen
nach dem „Buch der Bücher“ umher, und ihn überkam das Verlangen, das Original
seines wunderlichen Traumes darin nachzulesen. Dann fiel ihm ein, daß es gerade
die Odyssee gewesen, mit der er am Morgen vorher seinen verunglückten
Versöhnungsversuch gemacht hatte.
[Der Hausherr geht auf eine geschäftliche Reise - in
Wirklichkeit zur seiner Geliebten - und hinterließ die beiden Zurückbleibenden,
d.h. Woldmann und die zornige und eifersüchtige Donna Juana, „in peinlicher
Lage“ (121).]
S. 125: Er
verfolgte sie eine Weile mit den Augen; sie konnte nur zum vormittäglichen Bade
hinübergehen, und das Bild vom Mittag zuvor trat wieder zauberisch vor seine Erinnerung.
Der Traum der letzten Nacht vermischte sich damit; er sagte unwillkürlich
„Nausikaa“ vor sich hin. In der Kleidung der Rückseite, im Gange, in der Haltung
hatte seine schöne Wirtin unverkennbar etwas Antik-Klassisches.
[Woldmann beobachtet heimlich Umgang mit dem kreolischen
Küchenpersonal, die ihn an die Art einer deutschen Hausfrau erinnert.]
S. 129: Es war
Doktor Friedrich Woldmann, als ob er niemals etwas Anmutigeres, Sanfteres,
Einfach-Schöneres aus einem menschlichen Munde vernommen habe. Er fühlte nach
seiner Stirn, ob er wieder träume – war diese Frau ein Proteus, der sich
rastlos verwandelte und in jeder Stunde eine neue / Gestalt darbot, um seinem
Herzen unablässig neu die Ruhe zu nehmen?...S. 131: Die hohe,
mädchenhaft-liebliche Gestalt war eine Laune, eine flüchtige Blüte des heißen
Bodens und sie haßte ihn - -
Nein, er war unter
den Tropen, wo es nur eine Wahrheit gab: die glühende, atemlose Herrschaft der
Sinne – für ihn, den Fremdling, nur die üppig entfesselten, duftenden,
berauschenden Haare Donna Catalinas.
[Auch Donna Juana hat in der Nacht einen Traum nach der
Lektüre des „närrischen Buches“, S. 144: „ Ihr werdet sagen, wenn Ihr
heimkehrt, daß Ihr im Lande der Phäaken gelebt, wie der Held dieses Buches..“.
Sie bemängelt die spanische Übersetzung und Woldmann behauptet, daß es nur eine
lebende Sprache gebe, Form und Inhalt wie in der Ursprache wieder zu geben, das
Deutsche. Zum Beweis zitiert er auswendig die berühmten Abschiedsworte der
Nausikaa zuerst auf Griechisch, dann in seiner Muttersprache, vgl. S. 147 ff.
Sie fragt nach dem Schicksal der Nausikaa und zieht eine Parallele zur
Ertrunkenen. Auch diese Szene kommt Woldmann wie ein „törichter, wesenloser
Traum“ (S.150), vor. In Donna Juanas Seele würden „deutsche Perlen verborgen
ruhen“, S. 151. Sie sucht die Auseinandersetzung mit der Rivalin Donna Catalina,
verweist sie des Hauses und bereitet sich vor, auf eine Reise zu gehen ebenso
wie Woldmann, der zu einer Dschungelexpedition aufbricht (Kap. IV), von der er
nicht vor der Nacht zurückkehrt. Donna Juana bricht auf, ihn zu suchen,
begegnet der Kutsche ihres Gattin und dessen
Geliebten, flüchtet sich zu hilfbereiten Indianern.
Woldmann hat die nächtlichen Gefahren des Urwalds
überstanden und irrt einen zweiten Tag verloren und am Verdursten todmatt weiter,
während die Sucher auf seine Spur stoßen. Nach einem Sturz vom Felsenglaubt er
sich am Ende.]
S. 221: Aber der
Traum, der Vorbote des dunklen Bruders, den die Nacht bringen wird, umwirrt
phantastisch seine Gedanken. Er atmet den berauschenden Duft des dunklen Haares
[das er zu greifen glaubt], das ihn mit süßen Schauern umwogt; an seine
Schläfen knistert das seidene Gewand, und die Arme Catalinas schlingen sich
zauberisch betörend um seinen Nacken, doch seine / Lippen flüstern einen
anderen Namen - leise, den letzten Laut, ehe die Nacht hereinbricht -
„Juana - - -„
[Diese verbringt die zweite tropische Nacht von Woldmanns
Odyssee wartend am Flußufer in der Nähe von hilfsbereiten Ureinwohner . Da
tauchen einige in der Frühe zusammen mit dem Geretteten auf, der daraufhin in
einen todesähnlichen Schlummer fällt. Donna Juana hat beschlossen, ihr Haus und
ihren Gatten zu verlassen und in eine andere Stadt zu ziehen. Sie geht zum
schlafenden und offenbar träumenden Woldmann in die Hütte, um Abschied zu
nehmen, als dessen Kopfwunde plötzlich aufplatzt. Er erwacht „seine Lippen sagen glückselig,
traumverratend, lächelnd: „Juana“(S. 240). Sie umarmt ihn in „glühender,
namenloser Sehnsucht“ (S. 242). Zu Beginn des Kapitels VI wird Woldmann allein
zu seinem Gastgeber zurücktransportiert, der pathetisch den Tod seiner Frau
verkündet, die während seiner Geschäftsreise allein in den Urwald gegangen und verschollen
sei. Woldmann „war alles wie ein Traum, die letzten Tage und die letzte Nacht,
ja sein ganzes Leben“ (S.258). Er fällt in einen endlich traumlosen Schlaf. Dies knappe Handlungsgerüst fügt sich in
lange Passagen detaillierter Beschreibungen des Tropenwaldes. Neben der homerischen
Analogie, d.h. einer Mythopoiesis, könnte man dies Bemühen um die wirre exotisch
bunte Bilderwelt in ihrem funktionalen Bezug zu Woldmanns Passion durchaus als
Oniropoiesis verstehen, also eines impliziten verbalisierten Träumens.
Am nächsten Morgen ist alles wie sonst, „Nur die Herrin des
Hauses fehlte“ (S. 261), ihren Platz hat schon die Geliebte des Hausherrn
eingenommen, weil Anstand und die Würde, so jener, es erheischten. Angeekelt
verläßt er die Gesellschaft. Die neue Hausherrin versucht, ihn später mit einem
Liebestrank zu verführen und Woldmann stößt sie brutal zurück. .
S. 267: Ihm war,
als sei er eben zum zweitenmal einem elastischen, farbig überglühten
Sumpfteppich / entronnen, jener
trügerischen Bodendecke in der Tiefe des Urwaldes gleich, unter der es mit dumpffeuchter
Moderluft heraufkam und, wie er einbrach und tiefer und tiefer sank, ekles
Gewürm ihn von allen Seiten umwimmelte, während aus dem Dunkel die haltlos
zusammengestürzten Stämme um so glänzender und verführerischer
phophoreszierten, je verfaulter, innerlich vermorscht und verdorbener sie
waren.
[Allein Donna Juana sei die Ausnahme - aber “ hatte er deswegen das Recht, sie als
sein Eigentum zu fordern, zu behalten, mit sich in den stillen, sonnigen Garten
seiner Heimat zu tragen.. (S.269). Der
Garten als Gegenbild zum Urwald taucht hier zuerst motivisch auf und
antizipiert den bürgerlichen Schluß des Romans. Woldmann erfährt durch die
alte Dienerin, Donna Juana sei seit Beginn seines Aufenthalts in ihn verliebt
gewesen. Am nächsten Tag besteigt er die „Asuncion“: „“Vorüber, du buntes,
zauberisches Geheimnis des Urwaldes!“ (S. 296). Er erhält jedoch eine Nachricht
von Donna Juana, daß sie ihn in Havanna erwarte. In einem letzten kurzen Traum (S. 291 f.) erlebt er noch
einmal, wie er von seinen Rettern durch den Urwald getragen wird. Ein zweiter
Brief erreicht ihn:
S. 294: Leb‘ wohl,
Geliebter, prüfe, ob der kurze Traum die Zeit, die Trennung, die Wiederkehr in
Deine Heimat überdauert, den, ob Du kommst oder nicht kommst, , ewig
fortträumen wird..“
[Wie irrsinnig schreit Woldmann auf und läßt sich nach
Trinidad ausbooten.
Nach einem narrativen „Blanc“ finden wir Woldmann im
verschneiten Deutschland bei der erneuen Lektüre eines vier Jahre alten Briefes
von Don Amadeo, der in eine Scheidung eingewilligt hatte. Die Tür geht auf,
Juana, der gemeinsame Knabe Fritz und seine beiden jüngeren Schwestern erfreuen
sich an der deutschen Winterszene.
S. 304: [ Schluß in
Antithese zum Romanbeginn, beide verbindend] Draußen fällt der Schnee auf
deutsche Erde, und das frühe Dunkel kommt und die blasse Wintersonne
verschwindet. Aber drinnen über dem engen Gemach wölbt sich der unendliche Azur
des Äthers; mit silberweißem Lichte durchziehen ihn die ruhevollen Gestirne der Nacht, und durch die
Traumestiefen des Urwaldes murmelt der Waldstrom sein ewiges Geheimnis fort –
dem großen Rätsel des Meeres entgegen.
Auf der Feuerstätte.
Leipzig: Carl Reißner 1893, Bd. III, S. 191 ff.
Sprechen im Traum
In
diesem völlig vergessenen, eindrucksvollen historischen Roman über den großen
Hamburger Brand von 1852, der in der Großstadt Hamburg und südlich davon spielt
und die Vorgeschichte der Katastrophe und die darin verwickelten Personen aus bürgerlichem
Kaufmannsmilieu und adligen Hofbesitzern in den Vierlanden schildert, bricht
das verheerende Feuer in der Deichstraße erst auf den letzten fünfzig Seiten
(von rund 550) aus entsprechend dem Tragödienschema und motivisch mit einer
aufflammenden, Standes übergreifenden Liebe.
Die
im brennenden Haus der Kaufmannfamilie eingeschlossene Hedda kann im letzten
Augenblick als einzige gerettet werden und liegt lange in todesähnlichem
Schlaf.
Seit
Aeneas’ Traumheimsuchung durch die verbrannten Troianer wie Hektor und Kreusa
in Jensens Tragödie „Dido“ (1870) findet sich wohl keine längere Passage bei
Jensen, wo die Traumbilder zu gesprochener Sprache werden. Waren es bei Aeneas
noch Blankverse, so bricht hier konvulsivisch das Erlebte aus Hannas
Taumbewusstsein hervor:
S.
191:
Der
Feuerschein fiel duch das nach Osten gerichtete Fenster taghell mit rothem
Glanz bis in die Stube herein, dann mischte sich ihm allmählich der Morgenschimmer
des Himmelfahrtstages hinzu. Ob von dieser Veränderung des Lichtes vor den
geschlossenen Augenlidern, oder wovon sonst, Hdda, die bisher unbeweglich und
lautlos gelegen, begann mit dem Weitervorschritt der Morgenhelle unruhig zu
werden. Im Schlaf rannen einzelne Töne und Worte über ihre Lippen; sie zuckte
zusammen, bewegte sich; man erkannte deutlich, ein Traum versetzte sie heftig
in (S.192:) in Erregung, führte ihr rasch wechselde Bilder an den Sinnen
vorüber. Nun befand sie sich offenbar in dem brennenden Hause, sie stieß mit
fliegendem Athem aus:
„Nein
– nein – ich will nicht – lieber todt! Geben Sie mir meinen Brief wieder,
Dependorp – Sie sind so gut – aber ich kann nicht. Sie wollen ein Herz von mir
– aber ich habe keines – ich habe es verloren – da – da drüben im Moor – der ergeant
weiß, wo – „
Ihr
Mund murmelte etwas Unverständliches hinterdrein, doch dann warf sie ihren Kopf
herum und rief:
„Fort
– Dependorp – fort – schnell! Da die Mauer – sie bricht – um Gottes willen –
Dependorp! Oh –“
Ein
langgezogener Klagelaut folgte und etwas danach ein leises:
„Er
ist todt – der Gute – er hat mich lieb gehabt. Aber ich konnt’es nicht – ich
that’s nur, weil –„
Eine
Zeit lang ließ sich weiter nichts vom Gerde der Träumenden verstehen, bis
einmal eine deutliche, hörbar an eine andere Person gerichtete Frage kam:
„Wer
sind Sie? Warum sprechen sie so sonderbar mit mir? Ich bin ja nicht Ihr Kind –
und ich (S. 193:) fürchte mich vor Ihnen. Ihre Augen thun’s nur – wenn sie mich
ansehen, muß ich. Nein, ich will nicht gerettet werden – wozu? – Lassen Sie
mich auch verbrennen. Mir ist’s das Beste – und mit mir meinen Sie es doch gut.
Warum, weiß ich nicht – ich fühl’s nur –„
Es
schien, dass Hedda’s Erregung sich beschwichtigte, sie lag still. Aber
plötzlich schrie sie laut auf:
„Nelly!
– da ist sie – bei ihm in der Stube! Nein – nein – ich will nichts hören – er
soll nicht über mich lachen. Ich bin eine Dienstmagd und war blind, thöricht im
Kopf, zu glauben – nun ist er fort mit ihr. Da ist Herr Oskar – er hat den
Riegel losgemacht und bringt mir das kostbare Armband. Wie’s am Boden springt
und zersplittert! – Warum tritt der andere mit dem Fuß darauf? Was will er bei
mir? – Weg – ich bin Dependorps Braut! Ich hab’s ihm geschrieben – nein, ich
will’s schreiben –„
Da
geriet es wirklich mit Beruhigung über sie, ihre Brust athmete langsamer, und
ein veränderter Ton war’s, mit dem sie nach einer geraumen Pause hervorbrachte:
„Wer
hat eben gefragt: Lebt sie?“
Wieder
verging eine Weile, dann öffnete sich Hedda’s Mund noch einmal zu einigen
Worten von einem tief ruhvollen, traumhauft seligen Klang: (S. 194:)
„Ja,
Up die Füerstedt hieß es. Die Nacht war so warm – das kam von der Hand her, auf
die er seine Schläfe gelegt. Bis zum Morgen – zum Morgen –„
Wie
Morgenröthe am nächtlichen Horizont, dämmerte es leis um ihre Lippen herauf,
deutlicher, ein spielendes, nun fast schalkhaft anmuthendes Lächeln, mit
reizvollem Lebensausdruck das blasse Gesicht überhellend. Ohne sich zu regen,
hatten Erna und Hartwig den Einbildungsvorstellungen der Träumenden zugehört,
der Letztere mehr und mehr langhin verhaltenem Athems. Doch trotz seiner
Unbeweglichkeit verrieth sich höher und höher in ihm aufsteigende innere
Unruhe; seine Glieder durchlief ein Zittern, die Farbe seiner Züge wechselte
hastig zwischen Röthe und Blässe. Nun sagte er unbewußt halblaut:
„Up
de Füersted – ja, so hieß es.“ Er drehte den Kopf mit einem abwesenden Blick
nach dem durch’s Fenster einfallenden rothen Flammenlicht: „Wie ein
geisterhaftes Vorausklingen – „Auf der Feuerstätte“ –„
Da
kam ein tief Athem holender Seufzer aus der Brust Hedda’s, sie schlug die Augen
auf und fragte, das letzte von ihr im Traum gesprochene Wort wiederholend:
„Morgen
– ist es denn schon Morgen?“ Nun erblickte sie Hartwig und setzte mit dem
Lächeln um (S. 195:) um den Mund hinzu: „Sind Sie schon zum Gehen fertig, Herr
Straßer?“ Aber gleich danach stieß sie, jäh zusammenschreckend, aus: „Wo bin
ich? Was wollen Sie? Ich will fort – fort –„
Sie
war wach, doch in anderer Art als bisher der Vernunftbesinnung beraubt. Aus
iher Lage in die Höhe fahrend, warf sie die weiße Decke von sich, so daß ihre
gelösten Kleider, herabfallend, einen rosigen Schein ihrer halb unbedeckten
Schulter und Brust aufglänzen ließen. Aber nur einen Augenblick. Im nächsten
hielt Erna sie, schlang rasch die Decke wieder um sie und sagte:
„Bleib
ruhig, liebe Hedda – Du kannst so nicht – geh hinüber, Hartwig, ich will ihr
bei Ankleiden helfen.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen